Foto: KAB-Fahnen bei einer Demonstration am Münchner Marienplatz.
Das Ausmaß an Rechtsverletzungen an arbeitenden Menschen ist erschütternd, wie der „Global Rights Index“ des internationalen Gewerkschaftsbundes zeigt. Doch warum sind elementare Rechte so schwer durchzusetzen? Eine Spurensuche. (Erweiterte Fassung des im KAB-Mitteilungsblatt, Ausg Okt. 2019 erschienenen Artikels).
Von Irmgard Fischer, Diplom-Theologin und Betriebsseelsorgerin
20.10.2019
In den täglichen Nachrichtensendungen kommen die ständigen Rechtsverletzungen gegen arbeitende Menschen weltweit kaum vor. Nur große Skandale schaffen es in die breiten Medien, wie der Zusammenbruch einer Textilfabrik in Bangladesch vor sechs Jahren. Dabei gab es über tausend Tote und 2000 Verletzte. Wer möchte auch schon so genau wissen, welche Formen von Ausbeutung und Verletzung der Menschenrechte an vielen Sachen hängen, die wir so kaufen: Schuhe, Hosen, Smartphones, Computer, Spielzeug, Sportartikel und so weiter.
Da werden Menschen, die für ihre Rechte kämpfen, einfach hinausgeworfen oder auch eingesperrt, schlimmstenfalls auch erschossen, wie das jedes Jahr rund um den Globus mit Aktiven von Gewerkschaftsbewegungen geschieht. Erbärmliche Hungerlöhne, keinerlei bzw. kaum soziale Sicherung, exzessive Arbeitszeiten und oft massiv gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen sind der Normalfall in den Herstellungsländern. Zum Beispiel bei fast allen Bekleidungsprodukten, die wir hier in Deutschland kaufen.
Das Ausmaß der Rechtsverletzungen in den 145 untersuchten Ländern weltweit, wie sie im Global Rights Index des Internationalen Gewerkschaftsbundes dokumentiert sind, machen betroffen. Beispiele aus der Ausgabe 2019: In 107 Ländern wurde die Gründung oder der Beitritt zu einer Gewerkschaft verweigert. 85 Prozent haben das Streikrecht verletzt. In 64 Staaten wurde arbeitende Menschen willkürlich verhaftet und inhaftiert, in 52 waren sie Gewalt ausgesetzt. In 72 Prozent der Länder haben erwerbtätige Menschen keinen oder eingeschränkten Zugang zur Justiz. Nicht nur in anderen Teilen der Welt. Auch in Europa kommt es immer wieder zu Rechtsverletzungen. In einigen Ländern regelmäßig, teilweise sogar systematisch.
Das Recht, Gewerkschaften zu bilden und die Arbeitsbedingungen kollektiv zu verhandeln, gehört zu den Grundrechten und steht in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „Jeder hat das Recht, zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu bilden und solchen beizutreten“ (Artikel 23/4). Neben staatlichen Mindeststandards ist es das wirksamste Mittel für arbeitende Menschen, selbstbestimmt für menschenwürdiges Arbeiten zu kämpfen, zusammen mit dem Streikrecht. Es gehört zu den ILO-Kernarbeitsnormen.
Dieses Jahr feiert die ILO (Internationale Arbeitsorganisation der UNO) ihr 100jähriges Bestehen. Ihr Ziel ist es, mehr soziale Gerechtigkeit zu schaffen durch internationale Rechte für arbeitende Menschen. Beim Verbot von Kinderarbeit und Zwangsarbeit hat sie viel erreicht. Trotzdem ist es noch ein weiter Weg hin zu weltweit menschenwürdigen Arbeitsbedingungen.
Es fehlt der politische Druck, der politische Wille zur Durchsetzung der Rechte. Ständig werden z.B. von der EU Handelsabkommen mit verschiedenen Staaten oder Staatenbündnissen verhandelt. Die ILO Kernarbeitsnormen sowie auch Verweise auf Umweltschutz finden sich in diesen Abkommen aber nur als Empfehlungen – nicht als verpflichtende Mindeststandards mit entsprechenden Sanktionsmöglichkeiten und Klagerechten. Was sich dagegen durchaus findet, sind Klagerechte für Konzerne gegen Staaten zum Schutz von Investitionen. Kapitalgeber, Finanzmarktakteure und Konzerne bekommen Sonderrechte, den arbeitenden Menschen wird der Schutz durch verbindliche international verbindliche Rechte verweigert.
Ohne verbindliche internationale Rechtsstandards erhalten solche Unternehmen einen Vorteil, die Menschen ausbeuten und die Umwelt zerstören. Denn das ist in der Regel billiger. So entsteht Druck in Ländern mit guten Standards, diese zu senken, um wettbewerbsfähig zu sein.
Zahlreiche Experten und auch NGOs (Nichtregierungsorganisationen, engl. Non Gouvernmental Organizations) kritisieren dies seit vielen Jahren. Organisationen wie die „Christliche Initiative Romero“ oder die „Kampagne saubere Kleidung“ fordern, dass in den Industrieländern nationale Gesetze erlassen werden. Sie sollen weltweit agierende Konzerne verpflichten, für die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltstandards in ihrer Herstellungs- und Lieferkette zu sorgen.
Dazu gibt es bereits einen Gesetzentwurf von Bundesentwicklungsminister Gerd Müller und Arbeitsminister Hubertus Heil für alle Unternehmen mit Sitz in Deutschland. Bei Verstößen soll es Klagerechte für die Betroffenen und entsprechende Sanktionsmöglichkeiten geben. Gegen diesen Gesetzentwurf laufen die entsprechende Lobbyorganisation der Wirtschaft allerdings Sturm. Auch das Bundeswirtschaftsministerium versucht ihn zu verhindern.
Es stellt sich die Frage, warum elementare Rechte für arbeitende Menschen so schwer durchsetzbar sind. Klar ist, dass die Lobby der Investoren und Konzerne über sehr große Macht verfügt. Da ist sehr viel Geld, um die Politik zu beeinflussen und über die Medien die gesellschaftliche Meinung zu steuern. Darüber hinaus ist es dieser Lobby gelungen, die sogenannte neoliberale Wirtschaftstheorie zum Mainstream zu machen, weil diese ihre Interessen optimal fördert. Immer noch dominiert der Neoliberalismus in den vermeintlich neutralen Wirtschaftswissenschaften, ebenso bei den „Experten“, die die Politik auf nationaler und internationaler Ebene beraten. Und er ist breit in den Medien vertreten.
Vereinfacht gesagt behauptet diese Theorie, dass die „unsichtbare Hand“ des Marktes, möglichst befreit von staatlichen Eingriffen, auf wundersame Weise sich selbst reguliert und für das Wohl aller am besten sorgt. Die Bildung von Gewerkschaften, arbeitsrechtliche Minimalstandards wie die ILO-Kernarbeitsnormen, soziale Menschenrechte und Gesetzgebung für den Umweltschutz sind nach dieser Doktrin störende und hemmende Eingriffe in den Markt. Sie müssen verhindert bzw. abgebaut werden, weil sie für eine gute wirtschaftliche Entwicklung hinderlich sind.
Moralisch legitimiert wird dies auch noch mit der Behauptung, dadurch würde das Wohl aller am besten gefördert. Besser als mit einer verbindlichen staatlichen Rahmenordnung, die für die Einhaltung von Rechten, sozialen Ausgleich, soziale Sicherungssysteme und Umweltschutz sorgt.
Die großen globalen Institutionen wie die Weltbank, der internationale Währungsfonds und die Welthandelsorganisation sind von Vertretern der neoliberalen Doktrin dominiert. Versuche der ILO, Mindestbedingungen für die Arbeitswelt durchzusetzen, werden von diesen Einrichtungen nicht unterstützt. Handelsvereinbarung oder Kredite werden nicht an soziale Mindeststandards oder bestimmte Umweltstandards gebunden, denn das würde ja in dieser Doktrin den freien Markt beeinträchtigen. Stattdessen werden Deregulierung und freie Marktzugänge für die transnationalen Konzerne gefordert.
Mit dieser Doktrin sind auch bei uns die Rechte von arbeitenden Menschen sehr unter Druck geraten, obwohl die Standards für Normalarbeitsverhältnisse noch sehr hoch sind. So sehen wir in den letzten 20 Jahren, wie die Tarifbindung schwindet. Prekäre Formen von Beschäftigung werden mit einem Niedriglohnsektor politisch gefördert. Die soziale Sicherung wird löchrig und rechtlose Bereiche entstehen, beispielsweise beim Missbrauch von Werkverträgen oder in der so genannten Plattformökonomie.
Dort werden Arbeitsaufträge im Internet angeboten und formal Selbstständige/Scheinselbstständige können sich dafür bewerben. Amazon z.B. bietet im Internet Aufträge für die Zustellung seiner Produkte an. Wer diese Aufträge annimmt, hat keine feste Anstellung, keinen Urlaubsanspruch, keinen Kündigungsschutz, keine Sozialversicherung. Er/sie arbeitet formal wie ein Selbstständiger. Eigentlich ist er/sie aber nicht selbstständig, weil genau vorgeben ist, wie und was zu arbeiten ist. Das Entgelt ist entsprechend niedrig. Sehr beliebt ist auch die Vergabe an Subunternehmen. Sie sind nicht tarifgebunden, halten sich nicht an Rechte und haben oft fast schon mafiöse Strukturen.
Nach der Finanzkrise 2010 hatten viele die Hoffnung, dass die Vorherrschaft der neoliberalen Doktrin jetzt brechen würde und es wieder durchsetzbar wäre, der Wirtschaft vernünftige Rahmenbedingungen zu setzen – national und international. Stattdessen geschah etwas anderes: Rechtspopulistische Bewegungen bekamen Aufwind und in vielen Staaten wurden rechte Regierungen gewählt. Vermutlich auch von Menschen, die sich vom System benachteiligt fühlen. Nun haben aber die politisch Rechten wirtschaftspolitisch wieder ebendiese neoliberale Doktrin im Gepäck mit der Bereitschaft, sie in extremer Form umzusetzen. Klimaschutz und Umweltschutz: überflüssig, ebenso wie Rechte für Arbeitnehmer oder sozialer Ausgleich. Verhindern oder abbauen. Gewerkschaften? Ein zu bekämpfendes Übel.
Vielleicht ist diese Zuspitzung im Rechtspopulismus ja auch eine Chance, um zur Besinnung zu kommen. Hoffnungsvoll stimmen die vielen jungen Menschen, die jetzt für ihre Zukunft auf die Straße gehen, weil die Zerstörung des Planeten nicht mehr zu übersehen ist. Klimaschutz und Umweltschutz braucht eine andere Form von Wirtschaft. Es ist absolut klar, dass es ohne staatliche Regulierung nicht gehen wird.
Die neoliberale Wirtschaftstheorie nimmt eine folgenreiche Verkehrung von Werten vor, sie setzt den Markt als wirtschaftlichen Funktionsprozess an erste Stelle, dem sich alle anderen gesellschaftlichen Interessen unterordnen sollen. Die ganze Gesellschaft soll so umgeformt werden, dass sie dem Profitstreben und der optimalen Kapitalverwertung dient.
Papst Franziskus hat diese Form von Wirtschaft zugespitzt in dem Satz zusammengefasst: „Diese Wirtschaft tötet“ (Apostolisches Schreiben „Evangelii Gaudium“). Die christlichen Kirchen sind sich darin einig, dass Profitstreben nicht über die Rechte von Menschen gestellt werden darf.
Leitendes Prinzip staatlichen Handelns muss der Mensch als Person sein, die Trägerin von Rechten ist. Ziel sollte sein, ein menschenwürdiges Leben und Arbeiten für möglichst alle zu erreichen. Die Wirtschaft hat dienende Funktion, sie ist kein Selbstzweck. Die Frage ist: Welche Regeln, welche staatlichen und weltweiten Rahmenordnungen braucht eine Wirtschaft, so dass sie den Menschen dient? Sie muss lebensdienlich für möglichst alle sein, auch die künftigen Generationen. Nicht nur für Superreiche und eine privilegierte Schicht. „Lebensdienlich“ beinhaltet heute auch mehr denn je die Frage nach einer ökologisch verträglichen Wirtschaft.
„Auch im Wirtschaftsleben sind die Würde der menschlichen Person und ihre ungeschmälerte Berufung wie auch das Wohl der gesamten Gesellschaft zu achten und zu fördern, ist doch der Mensch Urheber, Mittelpunkt und Ziel aller Wirtschaft.“ (Postorale Konstitution „Gaudium et spes“, Zweites Vatikanisches Konzil 1965, Ziffer 63).
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