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30.03.2023

Experteninterview: Rückkehr der Gelbwesten in Europa?

Proteste in La Rochelle, Frankreich, Februar 2023. Foto: Rémy Penet/Unsplash.com


Von Inflation, Wohnungsnot, Krankenhausmisere oder Altersarmut seien alle geplagt, sagt der Buchautor und Philosph Guillaume Paoli. Sozialer Protest könne ermunternde Wirkung auf Nachbarländer haben – lasse sich aber kaum voraussehen oder planen. Das Interview mit Guillaume Paoli führte KAB-Referent Markus Grill.


Mit der derzeitigen Hartleibigkeit Macrons beim Rentenstreit eskaliert die soziale Frage in Frankreich gerade. Sind die Gelbwesten wieder genauso da wie vor 3 bis 4 Jahren? Oder kommen sie sogar radikaler wieder?

Nie waren die Gelbwesten eine organisierte Gruppe oder eine klar definierte Strömung. Dazu gehörte einfach, wer eine Warnweste anzog, und das passiert heute seltener, weil allein das Tragen des Kleidungsstücks an Protesttagen unter Geldstrafe steht. Aber natürlich sind die Gelbwesten unter den Hunderttausenden, die heute gegen die Verschlechterung des Rentensystems demonstrieren. Einmal wieder bestätigt sich, dass die Regierungspolitik von drei Viertel der Bevölkerung abgelehnt wird. Und dass die Überzeugung vorherrscht, nicht das Parlament kann etwas daran ändern, sondern allein der Druck der Straße. Da momentan alle Gewerkschaften hinter den Protest stehen, ist seine Form konventioneller. Ohnehin wird die Radikalisierung meistens durch das brutale Vorgehen der Polizei ausgelöst.

Frankreich und Deutschland haben – geschichtlich bedingt - ein sehr unterschiedliches Protestverhalten. Was müsste hierzulande passieren, dass die Bevölkerung ähnlich offensiv auf die Straße geht, wie Frankreichs Gelbwesten?

Das Besondere an dieser Bewegung war doch, dass sie völlig überraschend kam. Von Teilen der Bevölkerung angezettelt, die keine Protesterfahrung hatten: Mittellosen und Peripherien- Bewohnern. Ihre Wirksamkeit lag am Überraschungseffekt. Deshalb lässt sich schwer darüber spekulieren, wie hierzulande Vergleichbares passieren könnte. Letztes Jahr war von deutschen Linken wie von Rechten ein „heißer Herbst“ angekündigt worden. Medien und Politik nahmen die Drohung sehr ernst. Alle objektiven Bedingungen waren ja vorhanden, Inflation, Krieg, Energieknappheit, Wohnungsnot... und nichts desgleichen passierte. Sozialer Protest lässt sich eben nicht dekretieren. Aber die französische Erfahrung zeigt, dass die eigentliche Frage eher eine andere ist: Wie erkennt man eine Protestbewegung, wenn sie einmal da ist? Wie schätzt man ihre Potentialität ein? Und mit welcher Form der Teilnahme kann vermieden werden, dass sie einen falschen Weg einschlägt?

Sie haben es ja schon ein wenig in Ihrem Buch soziale Gelbsucht durchklingen lassen. Sollen die Klima-Aktivisten der Letzten Generation ihre Proteste verändern? Wenn ja, wie genau?

Es hat sich zwischen Fridays for Future und Lützenrath bereits einiges verändert, finde ich. Wichtig ist, dass die aktivistische Avantgarde den Anschluss zur lokalen Bevölkerung findet, und dass ihre Aktionen das symbolische Terrain verlassen, um Anliegen darzustellen, die alle konkret betreffen. Momentan finden zum Beispiel in Frankreich Proteste gegen gigantische Wasserbehälter statt, die allein zugunsten der Agrarindustrie errichtet werden sollen, dabei die bereits dramatische Abnahme des Grundwassers verstärken. Dass dort die Baustellen blockiert werden, versteht doch jeder Bewohner. Und viele machen mit. Es gibt leider genug Anlässe, gegen Großprojekte aktiv zu werden, die die Umwelt noch kaputter machen könnten, als sie bereits ist.

Können und sollten Gewerkschaften und Sozialverbände hierzulande den Gelbwesten ähnliche Proteste starten? Wäre so etwas überhaupt erfolgversprechend?

Selbst, wenn hiesige Gewerkschaften solche Protestaktionen unterstützen wollten, bleibt das Hauptproblem, dass sie es nicht dürfen. Anders als in sonstigen Ländern der EU sind in Deutschland sogenannte „politische“ Streiks verboten. Nicht einmal gegen Gesetze darf gestreikt werden, die die unmittelbaren Interessen der Arbeitnehmer betreffen. Von Tarifkonflikten abgesehen, sind nur polizeilich gemeldete und kontrollierte Demonstrationen erlaubt. Davon gibt es täglich Dutzende, ohne jemals einen praktischen Erfolg erzielen zu können. Zweifelhaft ist, dass die Gewerkschaften die Sozialpartnerschaft aufkündigen werden. Und viele prekär Beschäftigte sind sowieso von keinem Verband vertreten. In Deutschland wird also der Schritt zu direkten Protestaktionen schnell als illegal geahndet. Zumal vonseiten der Polizei wie der Medien die Toleranz für zivilen Ungehorsam und friedliche Blockaden im Vergleich zu den 1980er Jahren merklich abgenommen hat. Selbst die Grünen scheinen ihre protestfreudigen Anfänge vergessen zu haben.

Wie kann internationale Zusammenarbeit der Arbeitnehmerseite zwischen derart unterschiedlichen Staaten wie Frankreich, Deutschland und Großbritannien erfolgversprechend gestaltet werden?

Ich glaube nicht, dass der jetzige Zustand der Arbeitnehmerorganisationen eine effektive Zusammenarbeit erlaubt, die selbst in prächtigeren Zeiten nie richtig zustande kam. Verbindend sind viel eher die wirtschaftlichen Bedingungen, die sich in den jeweiligen Ländern angleichen. Von Inflation, Wohnungsnot, Krankenhausmisere oder Altersarmut sind alle geplagt. Und sicherlich hätte eine erfolgreiche Protestbewegung in England oder Frankreich ermunternde Auswirkungen in den Nachbarländern.

 

Lesen Sie auch: Soziale Gelbsucht – Guillaume Paoli

Die etwas andere Buchrezension von KAB-Referent Markus Grill.



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